Gott, wie war das doch alles aufregend und spannend. Zuerst die Anschaffung der neuen Videokamera im Frühjahr: Was hat man sich nicht alles an Testberichten und
in Foren durchgelesen. Was hat man sich nicht von Hinz und Kunz beraten lassen und was hat man nicht alles getan, um auch wirklich das beste Modell zu ergattern. Kaum hatte man es gefunden,
musste noch eine passende Tasche her, denn das neue Schätzchen sollte ja auch überall dabei sein und durfte nichts verpassen!
...und das neue Schätzchen war überall dabei....
...und es verpasste nichts....
...gar nichts....
...Speicherkarte für Speicherkarte....
...Stund um Stund.....
Natürlich wurde der mitgelieferte Mini-Akku noch durch den größten ersetzt, den die Statik des Kameragehäuses gerade noch zuließ. Kein leerer Akku konnte somit verhindern, dass sich nach und nach
ein kompletter Sommer in Form von dutzenden randvollen Speicherkarten auf dem kürzlich angeschafften Turbo-Rechner anhäufte. Die Worte des selbsternannten Filmproduzenten klingen jedem noch im
Ohr: "Im Herbst, wenn die Tage wieder kürzer werden, werde ich daraus ganz viele schöne Filme schneiden!"
...und es wurde Herbst.....
...und die Tage wurden kürzer......
...und wieder länger....
...und wieder kürzer......
Über die Hälfte der angehenden Filmemacher fühlen sich bereits beim Sortieren der unzähligen Speicherkarten derart gelangweilt, dass sie noch vor dem Einspielen ihrer "wertvollen" Aufnahmen ihr
Hobby neu überdenken.
Diejenigen die es geschafft haben, ihren Kram zumindest auf die Festplatte zu schaufeln, werden mit dem zweifelhaften Vergnügen belohnt, sich ihr gesamtes Material noch mal genau anschauen zu
müssen. Absurderweise freuen sich die meisten sogar darauf. Voller unschuldiger Naivität und kindlicher Neugier können sie es kaum abwarten, das Ergebnis ihrer halsbrecherischen Kamerafahrten und
der vielen "lustigen" und "völlig neuen" Kameraeinstellungen zu sehen. Sie sind fest davon überzeugt, ein gewaltiges Potential an atemberaubenden Aufnahmen vorzufinden. Benommen und ergeben in
ihrer perfiden Selbstwahrnehmung träumen sie bereits von ihrer ersten Oskarverleihung. Doch diese süße Illusion weicht beim Anblick ihrer Wunderwerke innerhalb weniger Augenblicke blankem
Entsetzen. Jede Minute ihrer tatsächlich den Atem raubenden Aufnahmen zermürbt Stück für Stück auch den letzten Rest Selbstwertgefühl der eben noch aufstrebenden Filmproduzenten. Die Grenzen der
psychischen Belastbarkeit sind hier schnell erreicht.
Nur wenige Anwärter haben die Tortur bis hierher überstanden. Wer durchgehalten hat, ist aber noch lange nicht übern Berg, denn er trifft nun auf die Königsdisziplin der Filmemacher - den
Videoschnitt. Wer knietief im Rohmaterial steckt, stellt sich nämlich über kurz oder lang folgende Frage:
"Wo soll ich schneiden?"
Die Antwort auf diese geradezu magische Frage teilt den kläglichen Rest der Übriggebliebenen in die folgenden Gruppen:
Die mit der Antwort: "Gar nicht"
Diese Gruppe findet nicht etwa alles wichtig was sie aufgenommen hat, nein, sie ist einfach nur frei von jeglicher Idee und Lust. Dennoch haben sich ihre Anhänger recht selbstbewusst in ihrer
Beschränktheit eingerichtet und lassen sich von ihrer mangelnden Kreativität keineswegs abhalten. Spielfilmlange Echtzeit-Dokumentationen von öden Begebenheiten werden hier hemmungslos auf DVD
gebrutzelt. Kapitelmarker wird man in diesen unerträglichen Machwerken vergeblich suchen; sie sind in diesem Genre aus sadistischen Beweggründen geradezu verpönt. Nur wenn dem späteren Betrachter
jegliche Selbstbestimmung genommen wird, kann dem hohen Anspruch auf Vollständigkeit der gezeigten Ereignisse Rechnung getragen werden. Anhänger dieser Gruppe existieren meist nicht sehr lange,
da sie ihr Publikum nicht begeistern, sondern zunächst betäuben und später verbrauchen. Ihr tristes Ende ist spätestens dann besiegelt, wenn sie verzweifelt versuchen ihre dumpfe
Fantasielosigkeit als bahnbrechendes, avantgardistisches Stilmittel anzupreisen.
Die mit der Antwort: "Irgendwo"
Kommen wir jetzt zu einem ganz faszinierenden Menschenschlag, den Wahllosen. Faszinierend deshalb, weil alle Mitglieder dieser eingeschworenen
Gemeinschaft innerhalb von 15 Sekunden nach dem ersten Programmstart jeder beliebigen Videoschnittsoftware zielsicher den Ordner für die Übergangs- und Spezialeffekte aufgespürt haben. Völlig
betäubt von den schier unendlichen Eindrücken ergreift sie der Jagdinstinkt. Jeder noch so magere Handlungsstrang in ihren Aufnahmen wird zielsicher ausgebombt und explodiert schlussendlich in
einem schillernden Feuerwerk aus zusammengewürfelten Spezial-Effekten. Glücklich und beseelt in der Annahme ganz großes Kino zu schaffen, mutiert unter ihren Händen auch das spannendste
Rohmaterial zu einer zähen, neutralen Trägermasse für wahllos aneinander gereihten Datenmüll. Wie lange sie ihr schändliches Treiben fortsetzen, hängt einzig und allein von der Anzahl der ihnen
zur Verfügung gestellten Effekte ab. Nur wenige Revolutionäre unter ihnen haben es gewagt, einen Effekt mehrfach einzusetzen. Sie wurden verspottet und vertrieben.
Die mit der Antwort: "Da muss ich noch mal nachdenken"
Ach ja, die Gruppe der Verdammten hätte ich fast vergessen. In diesem letzten Auffangbecken tummeln sich diejenigen, die dazu
verdammt sind, nächtelang vor einem gut belüfteten Rechner zu verbringen. Abgeschottet von jeglichem sozialen Kontakt sortieren, tüfteln und verwerfen sie vor sich hin, nur um eine kleine Idee zu
verwirklichen. Kreidebleich und mit tellergroßen Augenrändern tauchen sie just in dem Moment wieder auf, als man gerade dabei war ihren Namen zu vergessen. Völlig aufgelöst und erwartungsvoll
halten sie dann eine noch warme DVD in ihren Händen und streicheln sie wie ein neugeborenes Kind. Ein normal denkender Mensch wird wohl kaum begreifen, was in diesen Momenten in ihnen
vorgeht...
© emilsvideo (aus 2008)